Aufholjagd mit Fleiß und Glück
Stefan Bradl
Tiroler Tageszeitung, 27. Februar 2016
Aus der Perspektive des Wirtschafts- und Sozialhistorikers: Wie würden Sie die letzten 60 Jahre Tirol beschreiben?
Josef Nussbaumer: Als völlig unerwarteten Aufstieg auf ein Wohlstandsniveau, das sich 1950 niemand vorstellen konnte. Stimmen aus dieser Zeit waren davon überzeugt, dass Tirol noch auf Jahrzehnte ein Agrarland bleiben wird. Ein Zeitzeuge schwärmte von den „Ti-Wis (sic!) in Londons Geschäften, die sich daheim leider noch lange niemand leisten können würde“. Betrachten wir die Entwicklung in den Jahrhunderten davor, dann passierte in Westeuropa allgemein und ganz besonders in Tirol in den 1950ern und 1960ern tatsächlich ein Wirtschaftswunder!
Worin lagen die Gründe für diesen Aufschwung?
Nussbaumer: Neben der unmittelbaren Notwendigkeit, die Kriegsschäden zu beseitigen, setzte der Marshallplan gezielt Impulse, die auch Österreichs Wirtschaft neu beleben sollten. Diese ERP- Kredite flossen auch in den Tiroler Tourismus, weil der durch seine internationale Prägung Devisen ins Land brachte. Vor allem aber gab es einen extremen Nachholbedarf bei den Konsumgütern. Große Teile der Bevölkerung konnten sich zum ersten Mal Radios, Motorräder und Waschmaschinen leisten und trieben mit dieser Nachfrage den Wirtschaftsmotor an. Über steigende Löhne kam das Geld zu den Menschen zurück und ermöglichte die nächste Anschaffung. Es war quasi ein Selbstläufer.
Dem dann irgendwann der Saft ausging?
Nussbaumer: Und zwar wortwörtlich. Die Ölkrisen Mitte und Ende der 1970er- Jahre waren sicher eine Zäsur, nach der der Nachkriegsaufschwung inklusive Vollbeschäftigung endgültig vorbei war. Dazu kam, dass der Konsumhunger fürs Erste gedeckt war und Produktivitätsfortschritte den Arbeitskräftebedarf veränderten.
Worin unterscheidet sich Tirols Entwicklung von der der anderen Bundesländer?
Nussbaumer: Es gab in der Bevölkerung sicher eine große Bereitschaft, hart zu arbeiten. Das waren die Menschen aus der Landwirtschaft unter alpinen Bedingungen gewohnt. Ich möchte diesen Fleiß jedoch nicht überbetonen, den finden wir auch in anderen Regionen. Auch auf die Idee, das Straßen- und Stromnetz auszubauen, ist man nicht nur hier bei uns gekommen.
Dann ist Tirol der Aufstieg einfach passiert?
Nussbaumer: Es war, wie so manches Mal in der Geschichte, auch Glück im Spiel, ja. Es war Pioniergeist und Glück, dass ein säureresistentes Penicillin als Erstes in Tirol entwickelt wurde (von Ernst Brandl und Hans Margreiter, Anm.) und die Biochemie in Kundl damit ein weltweit gefragtes Produkt hatte. Es war Glück, dass die Wirtschaft in Tirol anders strukturiert war als z.B. in der Obersteiermark, wo sich die Verstaatlichtenkrise der 1980er massiv zeigte. Es war Glück, neben einem starken Westdeutschland zu liegen und nicht wie das Burgenland neben dem Eisernen Vorhang. Das soll die Leistungen vieler einzelner Tiroler und Tirolerinnen nicht schmälern. Sie haben Chancen erkannt, Potenziale genützt, haben engagiert angepackt und ihr Bestes gegeben. Aber sie profitierten auch von historisch sehr günstigen Umständen.
Mit Ihrem Wissen als Historiker – wie sehen Sie denn die Zukunft?
Nussbaumer: Die Wahrscheinlichkeit, dass es die nächsten 60 Jahre noch einmal so deutlich aufwärts geht, ist eher gering. Daher wäre es klug, wir würden uns mit dem in der Geschichte immer noch einmalig hohen Wohlstandsniveau arrangieren und diskutieren, wie wir es für möglichst alle halten können. Die sozialen und ökologischen Herausforderungen sind sicher erheblich, aber lösbar. Selbst global. Denn eines ist sicher: Ob wir wollen oder nicht – wir sind Teil einer einzigen Welt.