Kommentar: Mehr Entwicklungshilfe zur Selbsthilfe
von Josef Nussbaumer, Andreas Exenberger
Tiroler Tageszeitung, 16.10.2015, S. 14
Innsbruck – Es passiert nicht oft, dass die Vergabe des Wirtschaftsnobelpreises mit den Aktionstagen für Armut und für Welternährung zusammenfällt. Diesmal schon. Mit dem gebürtigen Schotten Angus Deaton hat ein Ökonom den Preis erhalten, der sich seit Langem auch mit solchen Problemen beschäftigt. Er ist sogar der Erste, bei dem die Vergabe mit seinen Verdiensten um die Armutsforschung begründet wird.
Wie die meisten Preisträger arbeitet auch Deaton in den USA, an der renommierten Universität Princeton. Er ist dabei in den letzten zehn Jahren schon der fünfte Preisträger aus dieser neuen Hochburg der Wirtschaftswissenschaften. Deaton ist trotzdem etwas eigen. Der bekennende Fliegenträger schreibt etwa halbjährlich „Briefe aus Amerika“, in denen er mit britischem Sarkasmus die Entwicklungen in seiner Wahlheimat kritisch kommentiert. Er hat auch keine Scheu, sich mit Politikern oder Fachkollegen anzulegen.
Aber er kritisiert nicht nur, er hat auch Verbesserungen parat. So begann Deaton seine wissenschaftliche Karriere mit Arbeiten über Konsumgewohnheiten. Dabei zeigte er, wie wichtig es für die Untersuchung von volkswirtschaftlichen Größen ist, das Verhalten einzelner Menschen zu verstehen. Wenn sich zum Beispiel das Einkommen ändert, dann ändert sich der Konsum nicht in gleichem Maß, sondern die Menschen bleiben ihren Lebensgewohnheiten treu. Damit das alles aber nicht reine Theorie bleibt, muss man Daten über die reale Welt besser messen. Das macht Deaton und kritisiert die Weltbank, wenn sie jüngst die Berechnung der globalen Armutsgrenze auf ein Einkommen von 1,90 Dollar pro Tag erhöht und das nicht zuletzt, damit die Zahl der Armen in der Statistik nicht zu sehr sinkt.
Die Sicht auf Einkommen ist Deaton aber ohnehin zu eng. Armut ist vielschichtig und eine Frage der Möglichkeiten. Das erinnert an Amartya Sen, Preisträger von 1998, den er als eines seiner Vorbilder nennt. Menschen wollen ihre Möglichkeiten erweitern und daher ist die ganze Menschheitsgeschichte eine „große Flucht“ (so auch der Titel seines letzten Buches) aus Armut und Krankheit. Und Deaton behauptet das nicht einfach, sondern kennt sich auch in dieser Geschichte aus.
So sammelt Deaton seit Langem Informationen zu den Lebensbedingungen und zur Zufriedenheit weltweit und arbeitet intensiv mit diesen Daten. Mit den Ergebnissen kritisiert er dann die US-Politik, weil sie nichts gegen die Umverteilung des Reichtums von unten nach oben unternimmt. Und er kritisiert Entwicklungsorganisationen, weil sie so sehr auf finanzielle Unterstützung setzen und das Geld oft in falsche Kanäle leiten. Es würde vielmehr darum gehen, Hindernisse für die Selbsthilfe zu beseitigen. Ein Zahlenvergleich macht klar, warum es da zum Beispiel geht: Jährlich werden weltweit rund 140 Milliarden Dollar in die Entwicklungszusammenarbeit investiert, zugleich aber wird mehr als doppelt so viel allein für Agrarsubventionen in den reichen Ländern ausgegeben, was gerade den Armen das Leben schwer macht. Geld fehlt hingegen in der Gesundheitsversorgung oder in der Bekämpfung von Mangelernährung.
Die Arbeiten von Angus Deaton sind anspruchsvoll, aber immer praktisch. Ihm ist zu wünschen, dass sie durch die Preisverleihung noch mehr Aufmerksamkeit finden werden als schon bisher. Schließlich zählte er nicht zum ersten Mal zum Favoritenkreis. Letztes Jahr hat ihm seine Frau nach der Bekanntgabe noch gemailt: „Wir sind frei!“ Diesmal nicht. Zumindest nicht am 10. Dezember, wenn in Stockholm der Preis übergeben wird.