Artikel: Die Stille des Hungers
20er Zeitung, 10/14, Seite 6
von Gastbeitrag
Seit 1945 erinnert der 16. Oktober an die Gründung der FAO, die als UNO-Organisation eine weltweite Ernährung sicherstellen soll.Die Nahrungsproduktion hat seither zwar stark zugenommen.Trotzdem ist Hunger weit verbreitet. Manche stehen daher an diesem Tag vor vollen Regalen und können ihn als Welternährungstag begehen. Für viele ist er aber – wie jeder Tag – ein Hungertag.
Stellen Sie sich die Welt als ein Dorf mit einhundert Menschen vor, das wir „Globo“ nennen. Es gibt dort viele Unterschiede: Nationalitäten, Religionen, Zugang zu Ressourcen, Bildungsstand, Lebenserwartung. Manche Menschen leben luxuriös hinter Mauern, um sich vor denen „da draußen“ zu schützen, manche in Häusern, die meisten in Hütten und einige einfach auf der Straße. In den stickigen Niederungen von Globo herrschen Gewalt, Krieg und Kriminalität, auf dem luftigen Hügel geht es hingegen eher partnerschaftlich zu. Ein Unterschied in Globo ist dabei allgegenwärtig und doch gut versteckt. Es ist der Unterschied zwischen jenen, die darüber nachdenken können, was sie heute essen wollen, und denjenigen, die nicht wissen, ob sie heute überhaupt etwas zu essen haben.
Doch Hunger, der fünfzehn Menschen in Globo betrifft, ist eine stille Katastrophe, die vom Wegschauen geprägt ist. Anders als Erdbeben oder Wirbelstürme, die sich ihren Weg in die Abend- nachrichten bahnen, kommt er kaum an die Öffentlichkeit. Er ist aber eine ständige strukturelle Katastrophe, die vor allem die schwächeren Mitglieder einer Gesellschaft trifft. Kinder, Alte, Kranke und sozial Diskriminierte zählen immer zu den ersten und zahlreichsten Opfern. Viele dieser Menschen sind von Geburt an zum Hunger verurteilt und die Hälfte aller Todesfälle, vor allem jene von Kindern, hat mit zu wenig oder zu schlechter Ernährung zu tun. In diesem Unterschied zwischen Hungernden und Satten besteht der wohl existenziellste unter den Menschen. In den ärmsten Ländern steht den Menschen im Durchschnitt weniger zur Verfügung, als man medizinisch zum Überleben braucht. In den reichsten Ländern, darunter Österreich, steht hingegen mehr als doppelt so viel Nahrungsenergie zur Verfügung, ein riesiger Überschuss, den man in produktive Tätigkeit umwandeln kann. Das ist nicht nur ein Spiegelbild der globalen Einkommensverteilung und von „Entwicklung“, es ist auch eine der Ursachen dafür.
Hunger ist nicht „monokausal“, das heißt, es gibt nicht den einen Hungergrund, sondern eine ganze Fülle von zusammenhängenden Ursachen und Auslösern. Das Scheitern von vielen Initiativen, die sich nur Teilen des Problems widmen, sorgt dann bei Helfenden und Besorgten oft für Frustration. Man könne ohnedies nichts bewirken, ändern, ausrichten, verbessern et cetera, Hunger sei „natürlich“ und daher unvermeidbar. Der Leidensweg des Hungers ist gepflastert mit dieser scheinbaren Aussichtslosigkeit, aber auch mit ungleicher Verteilung. Es werden nicht zu wenig Nahrungsmittel erzeugt – schon heute würde die Produktion für zwölf Milliarden Menschen reichen –, sondern sie gelangen nicht ausreichend zu den Menschen, die sie brauchen. Aber werden wir in einer Welt, in der die Verteilung aufgrund der bitteren Armut vieler Menschen schiefliegt, das Hungerproblem durch Mehrproduktion lösen können? Dieses Grundproblem zeigt sich im Bild des Hungers in vielen Facetten und damit verbinden sich arme und reiche Teile der Welt. Besonders bei den Teufelskreisen zwischen „Teller“ und „Trog“ – Nahrung oder Futtermit- tel für Tiere – und zwischen „Teller“ und „Tank“ – Nahrung oder Treibstoffe für Autos: Die höhere Kaufkraft in den reicheren Teilen der Welt führt zur Umlenkung der Produktion zugunsten von Fleisch und Benzin, was beides Nahrungsenergie vernichtet. Teils tun wir das auch ganz aktiv: Tagtäglich geht fast ein Kilogramm Nahrung pro Kopf durch Verschwendung verloren, nicht zuletzt durch das Wegwerfen „abgelaufener“ Produkte.
Verdrängungseffekte zeigen sich auch, wenn kapitalkräftige Käufer mittels „Land Grabbing“ gute Landflächen in armen Ländern erwerben: Das bedeutet Hunger, speziell wenn dort Nicht- Essbares wie Baumwolle oder Rosen für den Export erzeugt wird, während die Nahrungsproduktion für die Armen auf schlechteres Land ausweichen muss. Auch mehrere Hundert Milliarden US- Dollar pro Jahr an „Agrarsubventionen“ tragen ihren Teil bei: Sie verbilligen zwar Nahrungsmittel, das verdrängt aber oft einheimische Produktion und damit Einkommenschancen. Und wer kein Geld hat, kann sich auch billiges Essen nicht leisten. Schließlich hängt die alltägliche Gewalt wie ein Damoklesschwert über allen Hungernden. Kriege und Diktaturen zählen und zählten zu den größten Hungerverursachern und teils wurde und wird der Hunger auch als billige Waffe gegen militärische oder politische Gegner eingesetzt. Nachhaltige Hungerbekämpfung ohne Frieden und ein Mindestmaß an Demokratie ist daher zum Scheitern verurteilt, denn Menschen im Krieg oder ohne Mitsprache werden immer zu den Benachteiligten zählen.
Verhungern findet im Kreislauf von Hunger, Tod und Stille statt: Wer hungert, stirbt, dieser Tod erzeugt Stille und diese wieder Hunger. Noch ist das globale Hungerproblem in unseren Köpfen nicht als die riesige soziale und humanitäre Katastrophe verankert, die es ist. Es herrscht Gleichgültigkeit gegenüber dem stillen, weit entfernten, alltäglichen Hungertod, und auch gegenüber den Hungernden selbst. Das mag eine Verteidigung gegen die Hilflosigkeit sein, die man angesichts eines so aussichts- los scheinenden Kampfes verspürt. Und es stimmt schon: Niemand von uns wird das Hungerproblem lösen. Aber jeder und jede von uns kann täglich eine Kleinigkeit beitragen. Bald schon werden sich diese Beiträge auftürmen, um den Hunger der Stille und Unsichtbarkeit zu entreißen. Gemeinsam können wir es schaffen, mit der richtigen Mischung aus Ungeduld und Beharrlichkeit in vielen kleinen Schritten vom Leidensweg des Hungers abzubiegen. Irgendwann bewegen sich auch Berge.