Artikel: “Ein Gefühl für die globalen Dimensionen”
Wiener Zeitung, 24./25. Mai 2014, Seite 36f
von Irene Prugger
In dem Buch „Unser kleines Dorf“ wird die Welt als Weiler namens „Globo“ mit 120 Einwohnern dargestellt. So soll die Ressourcenverteilung auf der Erde veranschaulicht werden. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Andreas Exenberger erläutert dieses Denkmodell.
Herr Exenberger, in Ihrem Buch „Unser kleines Dorf“ werden die Erdtei- le zu „Weilern“, die Nutzfläche für Wiesen, Wald, Landwirtschaft und Besiedlung beträgt rund 150 Hektar, und ein Einwohner in „Globo“ entspricht 61 Millionen Erdenbürgern auf dem Globus. Die Welt, ein überschaubares Dorf. Bringt das neue Denkanstöße?
Andreas Exenberger: Wir waren überrascht, dass auch wir Wis- senschafter durch die dörfliche Metapher ein Gefühl für die globalen Dimensionen bekamen, denn selbst Zahlenfetischisten wie ich tun sich schwer damit, große Summen in vorstellbare Relationen zu bringen. Ich denke, es ist uns gelungen, ein möglichst komplettes Bild der Welt wiederzugeben und zu zeigen, dass die „Fremden auf den weit entfernten anderen Erdteilen“ unsere Nachbarn sind, deren Schicksal eng mit unserem verflochten ist.
100 waren es im Jahr 2000, inzwischen gibt es 120 Menschen in Ihrem Dorf. Ist das einsichtiger, als sich 7,2 Milliarden auf der Welt vorzustellen?
7,2 Milliarden sind eine abstrakte Zahl, bei 100 oder 120 Menschen ist man eher geneigt, jedem einzelnen ein Schicksal zuzugestehen. Wenn wir über die Welt reden, reden wir auch über konkrete Biographien, Umwelt und Lebenschancen. Nur wenn wir das begreifen, können wir Dinge ver- ändern und die Zukunft positiv beeinflussen.
Das globale Dorf wird von Problemen fast erdrückt: das Umweltproblem mit Energiefrage und Klimaerwärmung, Armut und Hunger, mangelnder Frieden. Wo würden Sie ansetzen, wenn Sie der Bürgermeister dieses Dorfes wären?
Das zentrale Rädchen, an dem man drehen müsste, um alle globalen Probleme zu lösen, gibt es nicht. Aber es gibt Ansätze zur Verbesserung der Situation. Dazu müsste man die Lebenschancen der Menschen verbessern, speziell im so genannten „Süden“, und ihnen einen Zugang zur Bildung ermöglichen, was nicht möglich ist, ohne ihnen auch einen Zugang zu ausreichender Ernährung und einem funktionierenden Ge- sundheitswesen zu gewährleisten, denn ein unterernährter oder kranker Mensch kann nicht lernen, auch dann nicht, wenn es gute Schulen und Ausbildungs-stätten gäbe.
In „Globo“ leiden 17 von 100 Menschen an Hunger, 11 Menschen sind von Übergewicht und Fettleibigkeit betroffen. Ist die Nahrungsmittelknappheit in einigen Weilern von „Globo“ ein Umverteilungsproblem?
Die Verteilungs-Ungerechtigkeit ist das größte Problem in Globo. Das betrifft nicht nur Nahrung, sondern auch Energie-Ressourcen und Rohstoffe. Derzeit gilt die Faustregel 20 zu 80, das heißt, 20 Prozent der Menschen im globalen Dorf verbrauchen rund 80 Prozent der Ressourcen. Dasselbe gilt für Gesundheitsdienstleistungen, Mobilität und die Verteilung von Wis- sen und Information. Da ist es manchmal auch 90 zu 10 oder noch krasser. Zugang zum Inter- net zu haben, bedeutet einen enor- men Vorsprung; und das Internet hat die Welt auch für jene geändert, die es gar nicht nutzen können. So vergrößert sich die Kluft zwischen „Norden“ und „Süden“.
Vermeiden Sie bewusst den Begriff „Entwicklungsländer?“
Ja, weil der Begriff suggeriert, dass sich dort etwas entwickelt, was oft nicht der Fall ist. Außerdem ist das Konzept davon getragen, dass man weiß, wohin Ent- wicklung gehen soll, und setzt voraus, dass wir uns im Prinzip richtig entwickelt haben. Alles was von uns abweicht, ist dann schlecht, nur weil es abweicht. „Süden“ bzw. „Norden“ – denn echte „Industrie“-Länder sind nur noch die wenigsten OECD-Länder – sind neutralere Begriffe, die darauf beruhen, dass arme Länder in der Regel um den Äquator herum liegen und rei- chere meistens nördlich. Wie alle Sammelbegriffe sind sie nicht ideal.
Auch innerhalb des „Nordens“ klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf.
Aber es gibt Sicherheitsnetze, zumindest vorläufig. Allerdings gibt es dabei Löcher und insofern problematische Strukturen, weil das Alimentierungs-System Menschen auch in Abhängigkeit hält.
Was tun? Nicht mehr alimentieren, nicht mehr subventionieren, keine Entwicklungshilfe mehr leisten?
So einfach ist das leider nicht. Es wird immer Menschen geben, die Hilfe brauchen und es ist wichtig, manche Entwicklungen zu lenken. Aber jene, die das Geld verteilen, wollen das auch weiter tun. Es ist nicht leicht, den Menschen echte Gestaltungsfreiheit zu überlassen und kaum jemand arbeitet daran, den eigenen Arbeitsplatz überflüssig zu machen. Es sind verschiedene Interessen im Spiel, von den Mächtigen genauso wie von den kleinen Rädchen im System und den Alimentierten selbst. Aber dass in unserer Welt täglich Tausende Kinder an den unmittel- baren Folgen von Unterernährung sterben, ist der größte Skandal. Um hier zu helfen, muss man manchmal auch Systemfehler in Kauf nehmen.
Sie haben ein Diskussionspapier veröffentlicht, in dem von der „Welthungerordnung“ die Rede ist. Müsste es nicht „Welthunger-Unordnung“ heißen, oder verbirgt sich dahinter ein System, das einen politischen Zweck erfüllt?
Es handelt sich tatsächlich um eine Welthunger-Ordnung und eine „Verwaltung des Hungers“ mit System. Der „Norden“ und seine großen Konzerne erzeugen Abhängigkeiten, die ihre Gewinne noch weiter optimieren. Das ist ihr vorrangiges Interesse. Mit subventionierten Lebensmitteln überschwemmen sie auch die armen Länder, die dort ansässigen Bauern schauen durch die Finger. Deren Problem ist, dass sie trotz billigster Arbeitskraft mit den Niedrigpreisen vom Weltmarkt nicht mithalten können und es keine Alternativen am lokalen Arbeitsmarkt gibt, von denen man leben könnte.
Auch die Agrarflächen werden für kleine Bauern in vielen Teilen der Welt zusehends unleistbar.
Das ist Teil dieser Welthunger-Ordnung. Man muss Kapital haben, um etwas zu verdienen. So kommt es zu einer Nutzungskonkurrenz um landwirtschaftliche Flächen. Aktuell ist etwa das Phänomen des „Land-Grabbing“: Ausländische Investoren kaufen Land auf, das vorher oft Kleinbauern genutzt haben. Sie tun das teils, um dort Rosen zu züchten oder das Land – streng bewacht – brach liegen zu lassen. Die klein-strukturierten bäuerlichen Familienbetriebe, von denen die meisten Menschen in von Hungersnöten bedrohten Ländern leben, die sie auch ernähren könnten, verlieren ihre Existenzgrundlagen. Die Erträge bleiben im „Norden“, wo auch die Rahmenbedingungen des „Regimes Weltagrarmarkt“ diktiert werden. So bekämpft man weder Hunger noch Ungerechtigkeit.
Es gibt einen Unterschied zwischen Hungerkatastrophen und chronischer Unterernährung. Die akut Lebensbedrohten haben bei Hilfsaktionen wohl die besseren Karten?
Ja, das stimmt. Die internationale Hilfe bei Hunger- und anderen Katastrophen funktioniert mittlerweile sehr schnell, es gibt sogar eine eigene „Hilfsindustrie“. Die Rettungsmannschaften steigen sich manchmal fast gegenseitig auf die Füße, es mangelt an Koordination und leider manchmal auch an Kompetenz. Immerhin werden sich ankündigende Hungerkatastrophen dadurch oft abgewendet, die Totenzahlen sind deutlich gesunken. Trotzdem hat sich in unseren Köpfen das Bild des schwarzafrikanischen Kindes mit aufgeblähtem Bauch als Hungersymbol festgesetzt, dabei über- sehen wir gerne das unauffällige Gesicht des indischen Kindes, das wegen chronischer Unterernährung schlecht schläft, große Entwicklungsdefizite aufweist, krank wird und früher stirbt. Allein in Indien hungern mehr Menschen als in ganz Afrika. Auch Pakistan, Bangladesh und China zählen zu den Spitzen-Hungerländern.
Könnte das Umverteilungsproblem bei der Nahrung auch zu einem Produktionsproblem werden?
Jedenfalls hat das Bevölkerungswachstum die zwischen 1950 und 1980 auch pro Kopf ständig steigende Getreideproduktion inzwischen überholt. Die Getreidereserven werden immer kleiner und hätten – wieder in der dörflichen Metapher – in einem Zimmer Platz.
Und das trotz der hochindustriellen Landwirtschaft und ihrer satten Ausbeute?
Mit der hohen Produktivität und dem Vorteil für die Welternährung argumentiert die industrielle Großkonzern-Landwirtschaft ihre Arbeitsweisen, u.a. auch das Auslaugen der Böden, Überdüngung, Monokulturen usw. Wer noch traditionell, in Kleinbetrieben oder mit alternativen Methoden wirtschaftet, steht in direkter Konkurrenz mit dieser enormen und auch enorm subventionierten Produktivität. Dabei handelt es sich eigentlich aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen um verschiedene Arten von Gütern. Zudem wird Land- schaftsschutz und -pflege nicht eingerechnet. Eine nachhaltige Ökologisierung der Landwirtschaft ist daher unabdingbar. Das würde zwar in Nordamerika und Europa zu einem Rückgang der Gesamtproduktion und der Exporte führen, überall sonst aber die Erträge steigern, mit sehr wün- schenswerten ökologischen und sozialen Konsequenzen.
Wir halten bei rund 7,2 Milliar- den Erdenbürgern. Jede Sekunde werden es drei Menschen mehr. 2013 ist die Weltbevölkerung um 80 Millionen Menschen gewachsen, der kräftige Zuwachs kommt hauptsächlich aus den armen Ländern. Das verschlimmert die Situation in „Globo“ doch noch weiter!
In „Globo“ stirbt jedes Jahr ein Mensch – und zwei, manchmal drei werden geboren. Das kann man sich vielleicht besser vorstellen. Wie schlimm diese Situation ist, kommt aber darauf an, welchen Lebensstandard wir vor- aussetzen. Die Philosophin Su- san George hat in ihrem „Lugano-Report“ vorgerechnet, dass – gemessen am derzeitigen westlichen Lebensstil – zwei Milliarden Menschen gut leben könnten. Das würde wohl auch die Umwelt gerade noch aushalten.
Wir sind aber schon sieben. Was also tun? Die Menschheit hat leider immer wieder gezeigt, dass sie ungelöste Krisen letztlich gewalttätig löst. Will man das nicht, muss man dafür sorgen, dass die Menschen in allen Teilen von „Globo“ gute Lebens- und Bildungschancen haben. Das wäre auch ein gutes Verhütungsmittel, denn Menschen, die echte Chancen für sich und ihre Kin- der sehen, bekommen weniger Nachwuchs.
Aber sie schaffen sich auch mehr Kühlschränke, Computer und Autos an.
Das ist Teil der unverzichtbaren menschlichen Freiheit. Bildung hilft auch hier, weil man die Folgen seiner Handlungen besser ab- schätzen kann. Trotzdem wird uns an der Spitze der Verteilungspyramide nichts anderes übrig bleiben, als unsere Konsumgewohnheiten zu überdenken und da und dort Verzicht zu üben, wenn wir die Erde als lebenswerten Ort erhalten wollen. Da sind auch kleine Beiträge wichtig, die- se können wir alle beisteuern.
Zum Beispiel, indem wir weniger Fleisch essen?
Das wäre eine Möglichkeit. Generell gilt: Etwa vier Fünftel der landwirtschaftlich global genutzten Fläche wird direkt oder indirekt für Viehhaltung verwendet. Durch den großen Fleischkonsum im reichsten Viertel des globalen Dorfes werden indirekt auch am meisten pflanzliche Lebensmittel verzehrt. Das ist weniger tragisch, wenn es sich um Grasfutter handelt, wird aber bedenklich bei Soja und Mais. Es stellt sich heute ganz praktisch die Frage, ob den Armen oder dem Vieh zu essen gegeben wird. Auf der Fläche, die für die Produktion von Futtergetreide für ein Kilo Fleisch erforderlich ist, könnten 120 Kilo Ka- rotten, 160 Kilo Kartoffeln oder 200 Kilo Tomaten angebaut werden.
Also nie mehr zum Metzger?
Ich predige keinen völligen Fleischverzicht, esse auch selbst Fleisch. Es geht vielmehr darum, die sinnlose Verschwendung einzubremsen. Ungefähr ein Fünftel der Nahrungsmittel wird von uns weggeworfen, zum Teil noch ori- ginalverpackt. Das ist ein Wahn- sinn! Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir das lassen. Und müsste man dafür überhaupt auf etwas verzichten?