Freie Presse Sachsen – Auf gute Nachbarschaft

Bericht: “Auf gute Nachbarschaft”
von Ulrike Nimz
Freie Presse Sachsen, 28.Oktober 2011, Seite 3

GLOBO — Die Welt ist ein Dorf, so heißt es. Beispielsweise wenn man unverhofft, in den entlegensten Winkeln, auf bekannte Gesichter trifft. Der Medienwissenschaftler Marshall McLuhan prägte in den frühen 1960er Jahren den Begriff vom „globalen Dorf“ als Bild für die vernetzte Welt, in der selbst der ent- legenste Winkel nur einen Mausklick entfernt ist.

Die Globalisierung lässt die Menschen der Erde näher zusammenrücken. Das Elend jedoch, der Hunger und der Krieg, sind in Europa immer gerade so weit weg, dass man es gut verdrängen kann. Die österreichischen Wirtschaftshistoriker Josef Nussbaumer und Andreas Exenberger wollen, dass uns das in Zukunft schwerer fällt. In ihrem Buch „Unser kleines Dorf“ haben sie McLuhans Idee aufgegriffen und anschaulich gemacht: Sie schrumpfen die Erde mit all ihren Eigenschaften, Bewohnern, Möglichkeiten und Proble- men auf ein Dorf mit 100 Menschen.

„Globo“ nennen die Autoren die Gemeinde mit fünf Siedlungen: Auf eine Fläche von knapp 840 Hektar, etwa drei mal drei Kilometer, verteilen sich die Ortsteile Asien (61 Ein- wohner), Afrika (13), Europa (12), Lateinamerika (9) und Nordamerika (5).

Kommt darauf an, wo du wohnst

Nun ist Globo kein ländliches Idyll. Im Dorf herrscht schlechte Luft, 90 Prozent des Abwassers werden nicht geklärt. Annähernd jeder zweite Be- wohner hat keinen Zugang zu sani- tären Einrichtungen. 20 Menschen haben kein sauberes Trinkwasser.

Über Chancen und Teilhabe, Wohlstand und Bildung entscheidet die Wohnlage. Auf einer Fläche, et- wa halb so groß wie Aue, sind Elend und Reichtum nur einen Straßenzug voneinander entfernt – sofern es Straßen gibt. Denn während die 17 Einwohner Nordamerikas und Eu- ropas im Überfluss leben, kämpfen die Menschen ein paar Schritte wei- ter ums Überleben. So lebt die Hälfte der Einwohner Globos unterhalb der von der Weltbank definierten Grenze für „absolute“ Armut. Die liegt bei 1,25 Dollar pro Tag. Dane- ben besitzen die zwei reichsten Männer des Dorfes 50 Prozent des gesamten Vermögens, während sich die ärmsten 50 ein Prozent teilen.

Nussbaumer und Exenberger beschränken sich nicht auf Zustands beschreibungen mittels Zahlen, zeigen auch die Entwicklungen der letzten 200 Jahre auf. Die Bevölke- rung von Globo hat sich in dieser Zeit versechsfacht. Im Jahr 1825 lebten in dem fiktiven Dorf nämlich gerade einmal 18 Menschen, davon 5 im Ortsteil Europa. Etwa in derselben Zeit präsentierte der englische Ökonom Thomas Robert Malthus eine überarbeitete Version seines „Essays on the Principles of Population“, noch heute ein viel zitiertes Werk. Malthus zufolge kommt zwangsläufig der Moment, in dem die Nahrungsproduktion nicht mehr mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten kann. Kriege, Hungersnöte und Krankheiten würden die Menschheit dezimieren.

Bislang hat der Fortschritt in Technologie, Landwirtschaft und Medizin Malthus widerlegt. Wie lange das noch so sein wird, vermag so recht niemand zu sagen. Verglichen mit den vorangegangenen zwei Jahrtausenden beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum in den letzten zwei Jahrhunderten um den Faktor 12. Für Globo bedeutet das, dass die Bevölkerung heute alle drei Jahre um die gleiche Anzahl an

Menschen zunimmt wie während der ersten 1500 Jahre christlicher Zeitrechnung. Zurzeit stirbt jedes Jahr 1 Mensch und 2 werden geboren. Somit leben heute schon 112 Menschen in Globo – und sieben Milliarden auf der Erde.

Welt unter dem Brennglas

„Es wird eng“, ist die Schlagzeile dieser Tage. Dabei ist weniger entscheidend, wie dicht Menschen beieinander leben, sondern was sie verbrauchen: In Globo werden jährlich 430 Barrel Öl verbraucht, trotzdem leben 27 Menschen ohne Strom, 39 sind zum Kochen und Heizen auf Biomasse angewiesen. 28 Menschen sind fehlernährt: 17, weil sie hun- gern, und 11, weil sie fettleibig sind.

„Unser kleines Dorf“ – das ist unsere Welt unterm Brennglas. Wenn das Elend hinter dem Gartenzaun beginnt und nicht tausende Kilometer entfernt, ist es schwerer zu ignorieren. Die Botschaft der Autoren ist klar: Wir sind alle Nachbarn. Und unser Dorf soll schöner werden.


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