Im Dorf „Globo“ leben exakt 100 Menschen. Sie verkörpern die Weltbevölkerung und dienen als Ausgangspunkt für persönliche Geschichten, die zum Nachdenken anregen.
Es ist eine einzigartige Idee, die es in dieser Form kein zweites Mal auf dieser Welt gibt. Andreas Exenberger, Stefan Neuner und Josef Nussbaumer brechen komplexes Zahlenmaterial herunter und stellen die Welt dar, als ob sie nur aus hundert Einwohner*innen besteht. Vor knapp zehn Jahren veröffentlichten sie zu diesem Anlass das Buch „Unser kleines Dorf“. Um auf dem aktuellen Stand zu bleiben und den weltweiten Veränderungen gerecht zu werden, entschieden sich die Autoren für eine Neuauflage. Als Basis diente das Jahr 2015, in dem die Vereinten Nationen nach mehrjährigen Vorbereitungen in ihrer Generalversammlung die „Nachhaltigen Entwicklungsziele“ verabschiedeten. Jedes Kapitel des Buches wurde einem der siebzehn nachhaltigen Ziele gewidmet. Durch informative Beschreibungen und Grafiken werden unterschiedliche Perspektiven auf die verschiedenen Lebensrealitäten eröffnet. „Unser Ziel war es nicht nur die Zahlen zu aktualisieren, sondern eine neue Struktur zu schaffen und unser Anliegen greifbarer zu machen. Den Menschen im Dorf haben wir zumindest ein statistisches Gesicht gegeben, indem wir sie als Personen in das Geschehen einbinden“, erklärt Wirtschafts- und Sozialhistoriker Exenberger.
Persönliche Geschichten
Wer lebt nun in dem Dorf Globo? Es sind 100 Menschen verteilt auf die Regionen Nordamerika (5), Lateinamerika (8), Europa (10), Afrika (16) und Asien (61). Die Dorfbewohner wohnen in einer kleinen Gemeinschaft recht nah beieinander und haben viel miteinander zu tun, trotzdem gibt es einiges, was sie voneinander trennt. Sie heißen Atlanta, Hue oder Davao und verkörpern individuelle Schicksale. Um komplexe Sachverhalte nachvollziehbarer zu machen, entwickelten die Autoren beispielsweise die fiktive Währung „Oro“, um die Einkommensverhältnisse miteinander vergleichen zu können. So stehen dem Nordamerikaner Austin 311 Oro an Tag zur Verfügung, während das afrikanische Mädchen Goma mit 1 Oro auskommen muss. Zudem werden Aussagen zum Bildungsstandard, der medizinischen Versorgung und dem Zugang zu sicherer Sanitärversorgung getroffen. Dazu kommen interessante Angaben über die Wohnsituation oder den Zugang zu Nahrung. Die biografischen Profile der Dorfbewohner können dazu genützt werden, um damit die Welt im Kleinen nachzustellen. In dieser Weise werden komplexe Sachverhalte zusammengeschrumpft und für die Leser*innen greifbarer. „Den Bewohner*innen wurde ein Gesicht, eine Geschichte, ein Name und ein biografisches Profil verliehen. Die Leser*innen können so eine emotionale Bindung aufbauen und die Zahlen anhand menschlicher Schicksale begreifen. Wir haben uns stets darum bemüht, Vorurteile vorzubeugen“, sagt Betriebs- und Volkswirt Stefan Neuner. Um die Geschichte des Buches zu verstehen, ist kein Vorwissen nötig. Die globalen Herausforderungen unserer Zeit wurden ansprechend verpackt und sollen alle Altersgruppen gleichermaßen ansprechen. Im alten Buch stand ein Mensch für 60,8 Millionen, im neuen für 73,5 Millionen. „Es sollte nicht vergessen werden, dass solche statistischen Durchschnitte, niemals echte Menschen darstellen, denn niemand, ist Durchschnitt, sondern jede und jeder ist eine einzigartige Persönlichkeit mit einer individuellen Geschichte“, betont Exenberger.
Begreifbar machen
„Es ist ein Versuch die Welt abzubilden. Als Grundlage dienen empirische Daten, die ein realistisches Bild ermöglichen“, sagt Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Josef Nussbaumer. Die meisten Erwachsenen gehen mehreren beruflichen Tätigkeiten nach. Der Großteil ist in der Landwirtschaft beschäftigt oder arbeitet von zu Hause. Es gibt Häuser ohne Internetzugang und Sanitäranlagen. Für manche Menschen in Globo ist die Verfügbarkeit von Energie selbstverständlich, andere leben noch inmitten in der prä-fossilen Welt. Welche Rolle das Meer spielt, verdeutlichen die Autoren anhand von brandaktuellen Beispielen. Denn Fische gibt es noch, auch wenn es immer weniger werden. So wurde beispielsweise der Bestand des Kabeljaus vor den Küsten Nordamerikas zerstört. Im Dorf Globo sind zehn Personen auf das Meer angewiesen, trotzdem wird kräftig weitergefischt. Es mangelt am richtigen Management, sowohl in Bezug auf den Fischfang wie auch des Schutzes. Zudem wird die Meeresverschmutzung immer mehr zu einem Problem. Insbesondere in Asien und Lateinamerika verursachen Düngemittel und Müll eine rasante Zerstörung der Umwelt. Um diesen Umständen entgegenzuwirken, möchten die Bewohner zehn Prozent der Meeresfläche unter Schutz stellen, sodass dort weder Fischfang noch die Ausbeutung von Rohstoffen möglich ist. Ein anderer Bereich, in dem die Unterschiede besonders spürbar sind, ist der Zugang zum Gesundheitswesen. In Globo hat nur die Hälfte der Bewohner eine Zahnbürste und nur wenig mehr haben zuhause eine Möglichkeit sich die Hände zu waschen.
Wissen vermitteln
Durch den Verein teamGlobo soll die Förderung der Bewusstseinsbildung, die Bildungsarbeit und die Forschung im Hinblick auf globale Ungerechtigkeiten vorangetrieben werden. Um diese Themen jungen Menschen näherzubringen, wurde die GloboSchule ins Leben gerufen. Im Rahmen dieses Bildungsprojekts werden in ganz Tirol spannende Workshops in Schulen abgehalten und es findet auch eine Kooperation mit der Jungen Uni der Universität Innsbruck statt. Dabei werden die teilnehmenden Kinder und Jugendliche aktiv eingebunden. „Die Biografien der Dorfbewohner*innen und die Landkarten dienen als Ausgangspunkt für eine lehrreiche Interaktion. Die Teilnehmer*innen können sich in das Leben der Menschen in Globo hineinversetzen“, erklärt Pädagogin für die GloboSchule Christine Rainer und fügt hinzu: „Es wird ein Bewusstseinsbildungsprozess in die Wege geleitet. Die Kinder und Jugendlichen werden zum aktiven Nachdenken angeregt.“ Bereits beim ersten Buch haben sich die Autoren dazu entschlossen, den Reinerlös aus dem Verkauf für karitative Zwecke zu spenden. Insgesamt konnten sie bereits rund 230.000 Euro sammeln. Auch in Zukunft möchte der Verein teamGlobo informative Veranstaltungen organisieren. Am 18. Jänner wird erneut ein Globo Dinner im Innsbrucker Haus der Begegnung stattfinden. An diesem Abend entscheidet ein Los darüber, wieviel Essen auf den Tellern der Teilnehmer*innen landet. „Dadurch wird die weltweite Ungerechtigkeit bei der Ernährung nachvollziehbar. Durch das Globo Dinner wird Bewusstsein für Unterschiede geschaffen“, betont Nussbaumer.
Mit Projekten, Veranstaltungen und ihrer Publikationstätigkeit möchten die Autoren nachhaltige Denkprozesse in Gang setzen. „Das Dorf Globo steckt voller Hoffnung und dient als Basis für mögliche Lösungsansätze. Die Leser*innen können sich ein eigenes Bild von der Welt schaffen. Globale Problemstellungen wie Umweltverschmutzung, Armut und Klimaschutz eröffnen unterschiedliche Betrachtungsweisen,“ sagt Nussbaumer. Durch das Dorf Globo wird klar, was Ungleichheit bedeutet, welchen Sinn die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen haben und was jeder Mensch dazu beitragen kann, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Die Welt im Kleinen
Von Miriam Sorko
Wissenswert – Magazin der Universität Innsbruck, Oktober 2021, Seite 18