Die Idee dazu, die Welt auf ein 100-köpfiges Dorf zu reduzieren, reicht bis ins vorige Jahrtausend zurück. Ein Hauptmotiv war die Erfahrung, dass Studierende in den Vorlesungen oft Probleme beim Einorden großer Zahlen hatten und so die Dimensionen verloren gingen. Dieses Problem beschränkt sich nicht auf die Universität: Auch in den Abendnachrichten gelingt es nicht immer, große Zahlen in die richtige Relation zu setzen.
So begann ich in den 1990ern, Zahlenmaterial aus aller Welt zu sammeln und auf ein fiktives Dorf mit 100 Personen herunterzubrechen. Im Laufe der Jahre konnten der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Andreas Exenberger sowie der Betriebs- und Volkswirt Stefan Neuner für das Projekt gewonnen werden. Daraus entstand das Buch “Unser kleines Dorf” (IMT Verlag 2009). Die Erstauflage betrug 500 Stück, im Laufe der Jahre wurden dann aber an die 7.000 verkauft. Allerdings wurde auch der Ruf nach einer Überarbeitung immer lauter, denn die verwendeten Ausgangszahlen stammten aus dem Jahr 2000 und veralteten somit immer mehr.
Deshalb entschlossen wir uns zu einer Neuauflage mit Daten von 2015. Da dies auch jenes Jahr war, in dem die UNO nach mehrjährigen Vorbereitungen in ihrer Generalversammlung die “Nachhaltigen Entwicklungsziele” (Sustainable Development Goals – SDGs) verabschiedete, bot es sich an, diese 17 ambitionierten Ziele, die bis zum Jahr 2030 erreicht werden sollten, auch zur Leitlinie des neuen Buches zu erheben. Zwei Aspekte standen somit im Vordergrund: Übersichtlichkeit über komplexe, soziale Weltrealitäten und ein UN-Programm, das helfen sollte, die ökologischen und sozialen globalen Probleme zu lindern.
Ungleich verteilte Lebensrisiken
Schauen wir jetzt aber einmal kurz von der Vogelperspektive auf das Dorf Globo im Jahr 2015. Dort leben etwas verstreut Menschen in Vierteln, die für Nordamerika (5 Bewohner), Lateinamerika (8), Europa (10), Afrika (16) und Asien (61) stehen – und ja: niemand in Ozeanien, weil dort in der realen Welt deutlich zu wenige Menschen für eine Globo-Person leben (dafür waren 2015 rund 73,5 Millionen Menschen nötig). Ozeanien muss dennoch erwähnt werden, weil dort ein paar Nutztiere leben und Ressourcen zu finden sind, die woanders im Dorf gebraucht werden.
In Globo gibt es Häuser mit Stromanschluss, mit guten Sanitäreinrichtungen und mit Internetzugang. In anderen Vierteln ist dagegen all das nicht vorhanden, ja es gibt oft nicht einmal eine Wasserleitung, und es muss mit offenem Holz- oder Kerosinfeuer gekocht oder geheizt werden. Die Menschen haben dann nicht einmal die Möglichkeit, sich die Hände zu waschen (Stichwort: Corona), und leiden unter Innenluftverschmutzung. Auch Lebens- und Gesundheitsrisiken sind somit recht ungleich verteilt.
Als im Jahr 2015 die UNO ihre 17 “Nachhaltigen Entwicklungsziele” propagierte, setzte sie sich zum Ziel, bis 2030 wesentliche Lebensgrundlagen zu verbessern. Dazu zählen etwa die Beseitigung der absoluten Armut und des Hungers sowie Zugang zu sauberem Wasser (inklusive Sanitäranlagen) und sauberer Energie für alle. Eine bessere Gesundheitsversorgung und bessere Bildungsmöglichkeiten sollten ebenso erreicht werden. Auch der Schutz der Meere, der Wälder und der Umwelt (inklusive Klima) steht auf dem Programm. Zudem sollte ein gewaltfreies Zusammenleben in Kombination mit weniger Ungleichheit möglich werden.
Werfen wir diesbezüglich aus der Vogelperspektive nochmals einen kurzen Blick auf unser fiktives Weltdorf. Leider hungern in Globo immer noch 11 der 100 Bewohner, und ebenso viele (nicht unbedingt dieselben) haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Noch schlechter sieht es bei der Versorgung mit Sanitäranlagen aus: In Lateinamerika ist noch 1 von 8 Bewohnern damit nicht versorgt, in Asien sind es 21 von 61 (also ein gutes Drittel) und in Afrika sogar 9 von 16 (mehr als die Hälfte).
Fehlender Zugang zu Medizin
Besonders prekär – was gerade in der aktuellen Pandemie ein besonderes Problem darstellt – ist auch die Gesundheitsversorgung im Dorf. Insgesamt haben 30 der 100 Bewohner von Globo keinen Zugang zu medizinischen Leistungen welcher Art auch immer – vor allem, aber nicht nur Kinder: In Afrika betrifft das 10 von 16 und im Haus Indien 10 von 18, im Haus China hingegen nur noch 1 von 19. Diese teils sehr hohen Anteile erschweren trotz aller Erfolge der Vergangenheit die Bekämpfung von Seuchen immer noch erheblich. In Globo haben nur 20 der 100 Bewohner theoretisch Zugang zu einer medizinischen Versorgung, die österreichischen Standards entspricht – was sich aber in der Praxis nicht alle leisten können.
Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf den Konsum im Dorf (SDG 12), denn die Konsummuster sind geradezu ein Spiegelbild für viele andere Probleme im Dorf. Verteilt man beispielsweise den gesamten Verbrauch in Globo auf 100 Konsumkörbe, die alle gleich viel wert sind, dann könnte man ja meinen, es wäre gerecht, dass für alle Menschen je ein solcher Korb zur Verfügung stünde. Dem ist bloß leider nicht so, denn die nur 5 Menschen in Nordamerika und die 10 Menschen in Europa bekommen je 27 solcher Körbe und 3 Menschen in Ostasien weitere 10. Insgesamt stehen also fast zwei Drittel der Körbe für weniger als ein Fünftel der Menschen zur Verfügung.
Diskrepanz bei Konsumkörben
Auf der anderen Seite verfügen die 16 Menschen in Afrika gemeinsam nur über 3 Körbe und die insgesamt 25 Menschen in Südasien nur über 4. Oder im Extrem gesprochen: Der reichste Mann in Globo hat mehr als 10 Körbe für sich allein, während die ärmsten Dorfbewohner mit weniger als einem Zwanzigstel eines Korbes auskommen müssen. Dazu bedarf es wohl keines weiteren Kommentars.
Zum Schluss sei noch auf eine Besonderheit hingewiesen, die wir dem Buch hinzugefügt haben: einen speziellen statistischen Anhang. Dort werden alle 100 Menschen im Dorf kurz individuell, quasi mit einem zumindest statistischen Profil dargestellt. Es sind kurze “Biografien”, die mit je rund 20 unterschiedlichen Indikatoren (wie Einkommen, Bildungsstand, Lebenserwartung, Konsumniveau, etc.) die recht unterschiedlichen Lebensumstände im Dorf Globo näher beschreiben. Die Aufstellung ist für jede einzelne Person einigermaßen stimmig, und alle zusammen bilden zugleich die Verteilung im Dorf und in seinen Vierteln ab. Eine derartige Zusammenstellung gibt es unseres Wissens bisher überhaupt nicht.
Der Ertrag des Buches wird übrigens zur Gänze an die Armen im realen Globo weitergeleitet: in Österreich, Europa und in allen anderen Erdteilen. Dies versteht sich auch als Minimalbeitrag zum Erreichen der “Nachhaltigen Entwicklungsziele.”
Ein Dorf namens Globo
Gastkommentar: Josef Nussbaumer
Wiener Zeitung, 18.07.2021