Beitrag: Armut in einem reichen Land
von Andreas Exenberger
Tiroler Tageszeitung, 04.01.2019
2015 haben sich die Vereinten Nationen auf 17 so genannte „nachhaltige Entwicklungsziele” (SDGs) verständigt. Das erste dieser Ziele lautet, dass Armut „in all ihren Formen” und „überall” bis 2030 „beendet” werden soll. Dazu gibt es fünf Unterziele, aber im Wesentlichen läuft es darauf hinaus, dass niemand mehr einen Lebensstandard haben soll, der weniger als dem Gegenwert von ungefähr 1,50 Euro entspricht — pro Tag. Denn weniger als das zu haben, bedeutet überall in der Welt, dass Hunger, Krankheiten und Perspektivenlosigkeit Alltag sind.
Von solchen Verhältnissen sind wir in Tirol zum Glück weit entfernt. Wir leben vielmehr in einer der reichsten und lebenswertesten Regionen der Welt, auch wenn es hierzulande aufgrund eher niedriger Löhne und eher hoher Lebenskosten nicht für alle gleich angenehm ist. Auch verdanken wir es einem funktionierenden Sozialstaat, dass die Ungleichheit in Tirol vergleichsweise gering ist. Eines der Unterziele hat aber trotzdem mit uns zu tun: Die Zahl der Menschen unter der nationalen Armutsgrenze muss ebenfalls reduziert werden.
Denn es gibt auch in Tirol Armut. Die letzten verfügbaren Daten zeigen auf, dass etwa ein Viertel der Tiroler Bevölkerung in Haushalten lebt, die entweder armuts- oder ausgrenzungsgefährdet sind. Für knapp fünf Prozent trifft sogar beides zu und man spricht von „manifester Armut”. Wer von solcher Armut betroffen ist, kennt Urlaub nur aus Erzählungen, muss für die Weihnachtsgeschenke der Kinder auf Lebensnotwendiges verzichten und täglich hoffen, dass nichts kaputt wird und dass man einigermaßen gesund bleibt. Schon die geplanten Ausgaben sind allmonatlich ein Kraftakt und jede ungeplante Ausgabe ist eigentlich unmöglich. Mieten, Betriebskosten und Essen lassen kaum Spielraum, schon ein Sparbuch ist Luxus. Bei dieser „Ausgrenzungsgefährdung” zeigt sich auch bei uns absolute Armut. Es gibt in Tirol Menschen, die sich kein Telefon leisten können, bei denen am Monatsende das Geld fürs Essen knapp wird, die verstecken müssen, dass sie sich keine neue Kleidung leisten können, die ihre Kinder nicht auf Schulveranstaltungen schicken können, für die ein Kino- oder Lokalbesuch mit Freunden nicht leistbar ist, geschweige denn eine Heizkostennachforderung. Die Betroffenen ziehen sich immer mehr zurück und ihre sozialen Kontakte reißen ab. Man kommt nicht mehr mit, Vereinsamung ist die Folge.
Neben diesem absoluten Mangel ist Armut in einem Land wie Tirol aber immer auch relativ. Das ist mit „Armutsgefährdung” gemeint: Bin ich so weit von der Mitte der Gesellschaft entfernt, dass die Gefahr besteht, dass ich mir das Dazugehören nicht mehr leisten kann? Um das zu messen, wird die „Armutsgefährdungsschwelle” berechnet. Sie liegt bei 60 Prozent des Medianeinkommens, wobei das Medianeinkommen jenes Nettoeinkommen ist, bei dem die Hälfte der Bevölkerung mehr und die Hälfte weniger hat. Zudem werden Größe und Zusammensetzung eines Haushalts berücksichtigt. Im Tiroler Armutsbericht von 2018 lag diese Schwelle bei 12-mal 1170 Euro für einen Einpersonenhaushalt (plus 585 pro weitere erwachsene Person und 351 pro Kind im Haushalt), wovon alle Ausgaben zu bestreiten sind.
Da werden sich jetzt einige beim Lesen denken: So viel (mehr) haben wir ja auch nicht und wir empfinden uns trotzdem nicht als arm. Das ist natürlich erfreulich und sicherlich gut so. Es kann mit einem genügsamen Lebensstil zu tun haben oder mit geringen Fixkosten oder damit, dass man sich als sozial integriert und persönlich anerkannt empfindet oder dass man weiß, dass der Zustand nur vorübergehend besteht. Die Zahl bedeutet letztlich vor allem, dass jemand, der mehr als dieses Einkommen zur Verfügung hat, normalerweise nicht „arm” sein sollte. Andererseits liegen die meisten Betroffenen nicht nur knapp unter der Grenze. Davon berichtet uns die „Armutsgefährdungslücke”, die in Tirol bei durchaus bedenklichen 24 Prozent liegt. Das heißt, dass den Betroffenen im Durchschnitt mehr als 3000 Euro pro Jahr fehlen, um wenigstens die Schwelle zu erreichen. Einige sind dabei sogar „Working Poor”, also Menschen, die trotz Erwerbsarbeit armutsgefährdet sind.
Spätestens hier wird Armut auch psychologisch sehr problematisch. Sie verursacht ständigen Stress, den auch die widerstandsfähigsten Menschen auf die Dauer nicht aushalten. Auch spricht niemand gerne davon, arm zu sein. Damit verschwindet Armut aber nicht, sie wird nur unsichtbar. Das wiederum führt dazu, dass viele Menschen Hilfe, die ihnen eigentlich zusteht, gar nicht in Anspruch nehmen. Das verschärft aber höchstens das Problem und man verzichtet auch auf die Möglichkeit, sich im sozialen Netz festhalten zu können. Wie das geht, zeigt in Tirol z. B. der „Sozialroutenplan”, ein „Wegweiser bei sozialen Schwierigkeiten”, in dem man Informationen und nützliche Adressen finden kann.
Ob man mit dem Einkommen letztlich auskommt, ist je nach Bedarf unterschiedlich, und auch, was als „zumutbar” empfunden wird. Daher ist der Blick auf die Armut natürlich immer eng mit Vorstellungen über Gerechtigkeit verbunden. Dass dabei ein Konzept wie Leistungsgerechtigkeit nicht weit führt, wird schnell deutlich, wenn man die Versorgung von Kindern bedenkt oder auch die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung, mit Pflegebedarf oder mit chronischen Krankheiten. Zudem sind viele gesellschaftlich oder in der Familie unverzichtbare Leistungen schlecht oder gar nicht und daher sicher nicht leistungsgerecht bezahlt. Vielmehr ist in der Armutsdebatte die Bedarfsgerechtigkeit zentral, oder wie es im noch gültigen Tiroler Mindestsicherungsgesetz heißt, allen ist „das Führen eines menschenwürdigen Lebens” zu ermöglichen. Dazu kommen aber auch noch Vorstellungen wie Teilhabegerechtigkeit, dass also Menschen an den sie betreffenden Entscheidungen und den in der Gesellschaft üblichen Aktivitäten auch teilhaben können und nicht völlig von der reinen Daseinssicherung in Anspruch genommen sind, oder auch Verteilungsgerechtigkeit, um zu starke Schieflagen durch angemessene Umverteilung zu vermeiden.
Wege aus der Armut
Armut ist daher ein vielschichtiges Problem, und so wichtig Hilfe in Notlagen ist, so wichtig ist es auch, systematisch gegen Risikofaktoren vorzugehen, nicht nur, wenn es um „leistbares Wohnen” geht. Eine Beteiligung am Erwerbsleben ist natürlich zentral, um aus der Armutsfalle zu entkommen. Investitionen in Ausbildung, Zugang zum Arbeitsmarkt und qualitätsvolle Kinderbetreuung sind daher logische Schritte in der Armutsprävention. Das gravierendste Risiko ist aber die Verfestigung von Armut (was etwa eine Folge der Hartz-Reformen in Deutschland ist), wenn also Armut chronisch wird und man keine Möglichkeiten mehr sieht, die Situation zu verbessern. Wer in schwierige Bedingungen hineingeboren wird, in chronischen Geldmangel, zerrüttete Familienverhältnisse, schwierige Wohnverhältnisse, der startet mit einem großen Nachteil. Schlechte Ausbildung und schlechte Arbeitsmarktchancen sind logische Folgen, Langzeitarbeitslosigkeit, chronische Krankheit oder persönliche Schicksalsschläge weitere Risikofaktoren. Und niemand ist gefeit: Akute Krankheiten oder ein Todesfall, Scheidung oder Jobverlust treffen letztlich immer ziemlich unvorbereitet. Die Aufgabe von Sozialpolitik ist es daher, allen Mitgliedern einer Gesellschaft sinnvolle Möglichkeiten zu eröffnen, um solche Krisen zu bewältigen und sich selbst aus der Zwangslage der Armutsgefährdung oder gar manifesten Armut zu befreien, aber auch jenen, die das nicht können, die notwendige Unterstützung zu geben. Dabei geht es zentral darum, Menschen in ihrem Selbstwert und in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken, auch wenn sich der Erfolg solcher Maßnahmen nicht so leicht messen lässt. Menschen in Angst bleiben dauerhaft arm, während selbstbewusste Menschen unsere Gesellschaft voranbringen werden.
Keine Gesellschaft darf es sich auf Dauer leisten, Menschen abzuhängen. Vielmehr gilt das Motto der nachhaltigen Entwicklungsziele auch für Tirol: Niemand darf zurückgelassen werden. Daher am Schluss auch noch einmal zurück zum Anfang. Der aktuelle Entwurf zum Rahmengesetz, mit dem die Mindestsicherung (bzw. Sozialhilfe) in Österreich neu geregelt werden soll, sieht für das dritte und jedes weitere Kind eine monatliche Zuwendung von ca. 45 Euro vor. Genau, das sind 1,50 Euro pro Tag.